Über das El Arbi Bouqdib Archive
أرشيف العربي بوقديب

"Ich habe mir schon immer die Kunst gewünscht, wenn es regnet,
den Regen durch Erklärungen in Sonnenschein umzuwandeln."

Aus einem Notizbuch E. Bouqdibs von 1987

Das El Arbi Bouqdib Archive (EBA) ist ein inter- und transdisziplinäres Langzeitprojekt, das mit seinem Selbstverständnis als ‚laufendes‘ Archiv gängige Erinnerungs- und Konservierungspraxen hinterfragt. Ausgehend vom Nachlass des in Marokko geborenen und 2016 in Bremen verstorbenen Mathematikers, Poeten, islamischen Mystikers und Koranforschers El Arbi Bouqdib bezieht ein kollektiver und prozessual offener Archivvorgang Kunstschaffende unterschiedlicher Felder ebenso wie Wissenschaftler*innen mit ein.

Bouqdibs facettenreiche Biographie, die sich über mehrere Kontinente und scheinbar polare Gegensätze wie Rationalität und Glaube, Wissenschaftlichkeit und Mystik erstreckt, dient dabei als Ausgangspunkt und Anker für die Auseinandersetzung mit tief verwurzelten Glaubenssätzen, eigenen und fremden Perspektiven und Zugängen sowie der Frage danach, welche Formen die Erinnerung an den und die Würdigung des Verstorbenen annehmen können.

Seit Anfang 2022 ist das von Bouqdibs Sohn Joseph und dem Kurator JMH Schindele administrierte EBA zugänglich und lädt Künstler*innen und Wissenschaftler*innen unterschiedlicher kultureller Hintergründe und Generationen ein, im Dialog miteinander und mit den rund 20.000 nachgelassenen Gegenständen, Dokumenten und Quellen des Archivs neue Werke der bildenden Kunst, der Musik, der Literatur und der Poesie zu schaffen und/oder sich wissenschaftlich mit diesen auseinanderzusetzen. Die Eingeladenen sind aufgefordert, sich in ihrem Medium und gänzlich den eigenen Fragestellungen folgend den Sujets, Themen, Diskursen, Materialien usw. zu nähern.

Elies Miniatures. Die erste Auseinandersetzung mit dem Nachlass Bouqdibs. Ein Werk diverser Autorinnen und Disziplinen.

Seit 2018 transformiert die Konzert- und Ausstellungszyklus Elies Miniatures Fragmente aus dem Leben El Arbi Bouqdib in Musik und bildende Kunst. Anhand von ausgewählten Objekten aus Bouqdibs Nachlass, dem „El Arbi Bouqdib Archive“, deren Anordnung sowie filmischer, literarischer und vor allen Dingen musikalischer Interpretation entspinnt sich in den Konzerten Stück für Stück die Erzählung eines Reisenden zwischen Orient und Okzident.

Am 7. Oktober feierte der dritte Teil des Zyklus, Die Blume und der Tod, Uraufführung in Berlin. Für Die Blume und der Tod hat die Virtuosin und Meisterin klassischer persischer Musik Elshan Ghasimi 19 neue Kompositionen zu 19 nachgelassenen Objekten aus dem Archiv komponiert und bringt diese, begleitet von der filmischen Inszenierung derselben durch Stark & Shakupa, zur Aufführung.

Für die ersten beiden Kapitel des Zyklus, Ein Garten singender Dinge und Archivblumen schuf der polnisch-britische Konzeptkünstler Fotographien und Objekt-Interpretationen. Die Idee des Gesamtprojekt beruht auf einer Idee Julian Schindeles und Elshan Ghasimis.

Die Komponistin und Musikerin Elshan Ghasimi bei der Premiere des Konzeptalbums Elies Miniatures im Sommer 2018 in Bremen. Das erste Objekt des Albums Elies Miniatures I – Ein Garten singender Dinge war der ‚Magnetic Field Generator‘. Klicken Sie auf das Foto, um zu hören wie Ghasimi diesen aktiviert.

Eine Radiosendung über das Projekt des SWR2 finden Sie hier.

Das Poster des dritten Teils des Elies Miniatures Zyklus. Gestaltet von Masoud Morgan.

Zur Person El Arbi Bouqdib (1947-2016) – Ein Leben im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und mystischer Erfahrung

El Arbi Bouqdib suchte sein ganzes Leben nach der wissenschaftlichen Überprüfung und Theorie hinter seinen (frühen) religiösen und magischen Erfahrungen. In diesem Spannungsfeld, das er zeitlebens in sich austrug, spiegeln sich grundlegende Konflikte unserer Zivilisation zwischen Wissenschaft und Glauben. Diese stehen sich jedoch im Falle Bouqdibs nicht in unversöhnlicher Opposition gegenüber, sondern lassen sich als Spektrum eines Lebens auf der Suche nach Synthese verstehen.

Bouqdib wurde 1947 als fünftes von acht Kindern in einem Dorf in der Nähe von Khouribga in Marokko geboren. Als Kind zeigte er ungewöhnliche Fähigkeiten, die von seiner aus einer Berberfamilie stammenden Mutter gefördert wurden. Bereits mit 9 Jahren galt er als ein sogenannter Hafez – eine Person, die den Koran auswendig und frei rezitieren kann. 1958 Umzug der Familie in die Großstadt Khourigba. Die Sommer verbringt Bouqdib bei den, in eigenen Worten, „weisen Männern in der Wüste“. Beschäftigung mit unterschiedlichen hermetischen (magisch-esoterischen) Praktiken.

1965, mit 18 Jahren Studium der Mikrobiologie in Rabat und Arbeit im Laboratoire de microbiologie des Zentralkrankenhauses der Stadt. 1969/70 erste Reisen nach Europa (England/Frankreich). 1971 Umzug nach Liverpool und London. 1972 Heirat mit Lisette Frey und Umzug nach Bern. Dort Tätigkeit in den Laboren der Wander AG sowie der Nestlé AG. 1973 Geburt des ersten Sohnes Gregor Alexander. 1975 Umzug der Familie nach Lausanne. Arbeit im Labor der SANDOZ AG und weiteres Studium an der École polytechnique fédérale de Lausanne. 1976 Scheidung von Lisette Frey, Umzug nach Amsterdam. Dort Gelegenheitstätigkeiten u.a. als Zirkuskoch und als Poet. 1977/78 längere Aufenthalte in Dänemark, Schweden und Spanien. 1979 erneuter Umzug nach Brüssel, regelmäßiger Besuch der Académie royale des Beaux-Arts. 1980 Publikation des Gedichtbandes Les Pas Perdus. 1981 Begegnung mit Margaret Ann Simmons. 1982 Heirat und Umzug nach Bremen. Geburt der Söhne David, Adam und Joseph 1984, 1986 und 1990. Kurz vor Geburt des ersten gemeinsamen Kindes Höllenvision und Verurteilung zu dieser, falls er nicht zum Islam zurückkehre und weiterhin magische Praktiken betreibe.

Trotz Familiengründung, Rückzug, Forschung und innere Emigration: 1983 Beginn der Arbeit an dem Buch Mathematique de la Pensée – Axiomatik of Thinking. 1985 – 89 Studium der Mathematik an der Universität Bremen. Nicht angenommene Promotion mit dem Titel: Relational Difference Equations zu Problemen der Zahlentheorie. Zunehmend Verknüpfung von Informatik, Koranforschung und Mathematik. 1990 – 2009 Monumentalwerk Unlocking the Quran Code, 2001 – 2016 De Croire à Savoir – Les Miracles Mathématiques Coraniques.

Am 9. März 2016 verstarb Bouqdib im Kreis seiner Familie in Bremen.

Konzeption und Praxis des El Arbi Bouqdib Archives

Im Jahr 2017 gründete die Familie Bouqdib gemeinsam mit dem künstlerischen Leiter der Bublitz gGmbH das El Arbi Bouqdib Archive. Dieses befindet sich im Haus der Bouqdibs in Bremen und wurde in den letzten vier Jahren konservatorisch gesichert und geordnet. Seit dem Frühjahr 2022 steht es nun offen für Personen, die sich künstlerisch oder wissenschaftlich mit dem ‚Kosmos Bouqdib‘ beschäftigen wollen.

Bei der Sicherung der rund 20.000 Objekte wurden neben den offensichtlich Bouqdibs Arbeit betreffenden Dokumenten genauso private Dinge wie Kleidung, alte Rechnungen, Duftöle, ein Bettgestell u.a.m. aufbewahrt. Joseph Bouqdib und JMH Schindele stehen dabei als Nachlassverwalter und Dialogpartner zur Verfügung. Besucher*innen sind dazu eingeladen, vor Ort, wo ein Arbeitsraum neben dem Archiv eingerichtet wurde, oder aber in der Zweigstelle in den Berliner Räumlichkeiten der Bublitz gGmbH, wo sich ein Teil des Nachlasses befindet, zu arbeiten.

Zwei Aspekte sind bezeichnend für das Wesen des EBA als ‚laufendes‘ Archiv: Einerseits die ihm inhärente und bewusste und Ausrichtung auf (künstlerische) Verwertung seiner Inhalte – als Erinnerungsarbeit auch besondere Würdigung Bouqdibs – und andererseits die damit verbundene Offenheit des Archivs. Einzelne Gegenstände werden aus dem Konglomerat entnommen und finden darin ebenso wieder Eingang, wie die aus und mit ihnen entstandenen Arbeiten, die in dieser Hinsicht Neue Erinnerungen darstellen.

Der außerordentlichen Vielfalt der Interessen und Person Bouqdibs Rechnung tragend, gilt es in diesem Langzeitprojekt, ein sowohl kulturell, wie auch inhaltlich und medial diverses Spektrum an Personen und Expert*innen zu versammeln, spartenoffen und jenseits grenzpolizeilicher Befangenheit (Aby Warburg). Das Ziel ist es, mit dem EBA eine beständig wachsende und dynamische Struktur multipler Autor*innenschaft herzustellen. Diese soll den ‚Kosmos Bouqdib‘ wie auch jene Kosmen, die er repräsentiert und die seine Existenz speisten, aus verschiedenen Perspektiven angehen und fortspinnen.

Die Projektteilnehmer*innen partizipieren an einem komplexen Abwägungs- und Selektionsprozess: Zwischen Spurensuche und dem Hinterlassen eigener Spuren, Appropriation und Distanzierung, Annäherungen mithilfe künstlerischer Hermeneutik und multipler Überschreibung/ Palimpsest. Die Auswahl der Archivgegenstände, wie und ob diese eine Transformation und/oder Poetisierung erfahren, welche Haltung und welcher Zugang gewählt werden, obliegt dabei allein den Künstler*innen und Wissenschaftler*innen.

Gewissermaßen in einer Parallele zu Bouqdibs eigener mystischer Transzendenzerfahrung übersteigt der Nachlass in der Überlassung an einen kollektiven Prozess die Ebene des Individuellen und erlangt universelle Relevanz. Die Beschäftigung mit Bouqdib und seinem Nachlass als Diskursträger öffnet die Tür u.a. für Fragen der Ethik im Dialog mit einem Abwesenden, zeitgenössischer Religionsausübung, Erinnerungskultur, aber auch kunstspezifische Fragestellungen bspw. nach dem Status von Objekten zwischen Objet trouvé, Readymade, Souvenir, Relikt, Reliquie und Kunstwerk.

Mitte der 70er Jahre. Bouqdib und Arbeitskollegen im Labor, vermutlich der Wander AG.

Oben: 1982 heiraten El Arbi Bouqdib und Margaret Simmons
Unten: 1979 begann Bouqdib ein Studium an der Beaux Arts in Brüssel

Bouqdib beschäftigte sich mit unterschiedlichsten Themenfeldern. So tauchten im Nachlass etwa ein Dutzend Hefte und Folianten auf, in denen seine Arbeit als Chiromant (Handleser) dokumentiert ist.

Anhand der Objekte, die uns hinterlassen wurden, lassen sich Deutungen, Spekulationen und Interpretationen über Werk und Biographie des Abwesenden anstellen. Hier ein wichtiges Arbeitsgerät des Forschers. Der Taschenrechner HP-41CX, inszeniert und interpretiert von Michal Martychowiec.

Dieses Dokument zeigt die Vorder- und Rückseite eines Horoskops, das von Bouqdib erstellt wurde. 1987 gab er nach eigenen Angaben alle magischen Praktiken auf und widmete sich nur noch der Erforschung des Korans.

Vom 24. bis 29. August 2015 führte JMH Schindele ein erstes und letztes Interview mit Bouqdib. Dieses etwa 20-stündige Dokument umfasst u.a. ein Gedicht aus Bouqdibs eigener Feder. Dieses berührt bis zur heutigen Stunde. Durch einen Klick auf das Foto können Sie es anhören.

„Ich habe die Wahrheit nicht gefunden,
deshalb bin ich nach Europa gegangen.
Meine Meister waren die Bücher“

El Arbi Bouqdib im letzten Interview mit JMH Schindele 24. - 29. August 2015